Wenn Musik Nahrung der Liebe ist, dann...
… spielt weiter!“
so heißt es in Shakespeares Was ihr wollt, 1. Szene im 1. Akt.
Und plötzlich sagt mir jemand: „Musik ist verboten!“
Was sollen wir? Nicht mehr singen!!! Keine Musik?
Ich kann doch nicht nur Essen!
Zwar kommt, laut Berthold Brecht „zuerst das Fressen und dann die Moral“ und der alte Volksmund sagt „Essen hält Leib und Seele zusammen“, aber die Seelennahrung Musik zu verbieten, grenzt für mich, die nicht nur Musikerin, sondern auch Musikpsychotherapeutin ist, an schwerer seelischer Körperverletzung.
Wir spielen weiter! Konzerte verboten, dann nennen wir es eben Proben.
Wir proben weiter!
Zeit hatten wir ja ab März 2020 mehr als genug, das gesamte Repertoire, das sich über 5 Lebensjahrzehnte bei mir angesammelt hatte, aufzufrischen. Hunderte von Liedern aus Klassik, Jazz, Chanson, deutsches Liedgut, Schlager, Volkslieder aus vielen Nationen, Trinklieder, Blödelsongs und Protestlieder. Ja, ich hab noch in der Schule in der DDR gelernt „Musik ist Waffe im Klassenkampf“. Konrad Wolf sagte das.
Im KZ wurde gesungen und es gab Auftritte von Orchestern dort.
„Summertime, and the liver is easy“ sangen die Sklavinnen, mit ihren Säuglingen auf dem Rücken in den Plantagen – durstig, schwitzend sich schindend. Worksongs halfen das Elend, was ihnen zugemutet wurde zu ertragen. Und wir sollen still, schweigend und stumm jeder in seiner Zelle sitzend, derb ausgedrückt die Schnauze halten?
Wir sollen also nicht in Konzerten auftreten. Wir spielen, getreu Shakespeare, einfach weiter. Jeder kleine Wackler im Stück wird Opfer unserer musikalischen Arbeitswut in den Proben. Jeder Song, der uns und der Zeit auf der Seele brennt wird bis zur Bühnenreife frei geübt. Auch wenn uns jeder Brocken, den wir schlucken sollten erst mal die Sprache zu verschlagen drohte und im Halse stecken blieb.
Wir proben weiter!
In einem großen Mietshaus mit toleranten und begeisterten Musikfreunden kann man jedoch auch nicht Tag und Nacht seiner Empörung über die Lage der Nation Stimme und Pianoforte verleihen, deshalb probten wir im Wald weiter. Die armen Bäume ertrugen unsere fassungslosen, lautstarken, mündigen Debatten, Urschreie und emotionalen Ausbrüche, die oft in hilflosen Tränenbächen mündeten.
Das gehört alles zum künstlerischen Prozess!
So habe ich dann den Pianisten, meinem Sohn, und mich getröstet.
Proben ist wie Psychotherapie – nur gesungen und lauter. Durch alles, was man ausdrücken will muss man erst mal selbst hindurch. Bevor man überhaupt vor dem Publikum stehen kann, ohne sich selbst vor Schmerz, Wut, Trauer, Euphorie aufzulösen, probt man sich frei. Irgendwann landet man in einer himmlischen inneren Gefasstheit und Stabilität – in der Liebe. Vorher wäre jeder Vortrag mit unerlösten Gefühlen der Musiker eine Zumutung für das Publikum.
Umgekehrt rissen die Emotionen des Publikums mir erfahrenen „Rampensau“ manchmal fast den Boden unter den Füßen weg. Standhaftigkeit und Präsenz kann man da am ganzen Leib erfahren! Entweder man bricht zusammen oder man geht stärker und miteinander verbundener daraus hervor.
Wie kann ich aber den Pianisten, einem jungen Heranwachsenden, mit meiner Präsenz, für Mut und Aufrichtigkeit infizieren? Für ihn brachen ja grade die Werte seiner Kindheit wie ein Kartenhaus zusammen, die er bis gestern noch vehement als Schüler- und Schulsprecher verteidigt hatte.
Was ist los in diesem Land und was geht hier ab? Und warum darf die Mama plötzlich ihre Arbeitsstellen nicht mehr betreten ?
Antwort des Heimleiters (Zitat): „…weil ihre blanke Anwesenheit dazu führt, dass die Bewohner des Altenheimes sich selbst ein Kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unsre weit und breit… anstimmen und herzzerreißend singen“ (während ich und alle anwesenden Pflege- und Servicekräfte daneben stehen und hingerissen vor Herzweh weinen).
Gegenfrage: „Was hätte ich denn tun sollen, Herr Heimleiter?“
„Es strengstens unterbinden!“
Genau, das ist die Antwort, die einer Generation, wo Maul halten, Aushalten, Still halten nach mehr als 70 Jahren wieder aufgetischt werden sollte. Retraumatisierung lässt grüßen! Tut mir leid, das ich die Anweisung nicht befolgte und raus geflogen bin.
Es spielte dann keine Rolle mehr, dass ich noch vor ein paar Monaten zum Muttertag 2020 im Hof des Altenheimes musikalisch gastierte und von Hausmeistern bis zu diesem Heimleiter alle wie gebannt zuhörten und weinten. Nach 2 Monaten der Total-Isolation durften wir in einem Openair den hochbetagten Kriegsmüttern und etwas jüngeren Nachkriegstöchtern Blätter von verblüten Rosen, die wir von den Rabatten der Häuservorgärten geklaut hatten, weil kein Blumenladen geöffnet war, mit Abstand entgegen schmeißen. So war die Anweisung!
„Die Anweisung ist die Anweisung“, sagte schon der einzige Bewohner des 5. Planeten, dem Asteroiden 329, in der Geschichte vom kleinen Prinzen, als er die Laterne treu und regelmäßig aus und ein und aus und ein und aus und ein schaltete.
Die Anweisungen sind zwar sinnlos und werden immer absurder und treiben dornige Blüten. Aber es ist eben die Anweisung!
Corona steht nun als Symbol für schon lange bestehende innere Anweisungen, Glaubenssätze und Erziehungsmuster. Finanzielle Engpässe, Leitungs- und Teamquerelen, frisch gebackene Missbrauchsfälle in Kirchen, Korruption und Machenschaften aller Orten werden uns aufgetischt. Der Umgang mit Mensch, Tier und Natur in all seiner Unwürdigkeit, die verkümmerte, verbogene und verlogene Zwischenmenschlichkeit knallt einem nur so um die Ohren.
Und ich selbst? Bin auch mit dabei spontane Empfindungen zu kollektiven Erfahrungen aus der NS-Zeit und dem eigenen Erleben in der DDR an die Frau und an den Mann zu ballern… ohne zu fragen, geradezu an jeden, der gerade im Weg steht.
Spiel weiter, sagt Shakespeare.
Ich höre darin: „Gib nicht auf mit dir und der Welt.
Mach weiter Musik und rede nicht so viel.
Freue dich über die Gnade dieses Mediums mächtig zu sein, und damit sogar deinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch wenn man dich nicht arbeiten lässt, wie du es willst, und das was du vermagst nicht zu Vermögen führt. Erinnere dich, das Zitat von Shakespeare geht mit einem Appell an die Musiker ja noch weiter:
„Gebt im Übermaß Musik, damit das Verlangen am Überfluss erkranke und sterbe.“
Dorothea Karola Hartmann
Wiesbaden, 27.2.2022