Trauma ist: Wenn man nicht mehr darüber redet

Als ich vor ein paar Tagen im Musikalienhandel Noten für unsere nächsten Konzerte kaufte, kam ich mit dem Verkäufer ins Gespräch über die Musik und Kompositionen klassischer Komponisten und den Herausforderungen an die Musik des 20. Jahrhunderts, in Anbetracht des Leidens zweier Weltkriege. Welche Spuren dieses Leid im kollektiven Bewusstsein der Deutschen über Generationen hinweg hinterlassen hat und wie Komponisten künstlerisch agieren lernten, unter dem Einfluss einer ganzen Gesellschaft, die traumatisiert ist.

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Die Musik des 20. Jahrhunderts stand vor folgenden Problemen:
Inwiefern kann sie extreme Seelenzustände einer traumatisierten Gesellschaft ausdrücken und dabei handlungsfähig und selbstbestimmt bleiben? Wie weit kann sich der Komponist mit in die Symptome von Traumatisierung hineinziehen lassen, sich identifizieren, die Traumen in sich aufnehmen und selbst reproduzieren?

Nach den unvorstellbaren Schrecken des Zweiten Weltkrieges werden die des Ersten Weltkrieges eher unterschätzt. Zu den Materialschlachten, den Giftgaseinsätzen an der Front, dem Hunger und den Entbehrungen im ganzen Land kamen die Trauer über die Gefallenen und der Anblick vieler Invaliden und verkrüppelter Menschen. Der erste Weltkrieg hinterließ ein Heer von Blinden, Amputierten und seelisch Zerrütteten wie kein Krieg zuvor. Das musste spürbare Auswirkungen auf die Befindlichkeit der ganzen Gesellschaft haben, zumal die gesellschaftlichen Umbrüche in Deutschland und Österreich durch das Ende der Monarchien und das Bewusstsein, den Krieg verloren zu haben, hinzukamen.

1928

Komponiert wurde nach 1928 die kollektive Traumatisierung in spürbarer Beherrschtheit, dem Zwang zur Härte, die der Musik angetan werden musste. Man hörte in der Musik die Angst und das Chaos, welches unter der Beherrschtheit waberte und gegen das die Ordnung errichtet wurde. Im Zwanghaften der Zwölftonmethode kamen weder harmonische noch melodische Kräfte zur Entfaltung, und das verlieh der Musik eine eigentümliche Starre. Die neue Ordnung der Zwölftontechnik löschte förmlich das Subjekt des Menschen aus.

Solcher Subjektverlust entspricht der Erfahrung von Traumatisierten, nicht mehr Herr ihres Lebens zu sein, ihr Leben nicht mehr gestalten zu können.

Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Paul Hindemith und die Franzosen der „Groupe des Six“ mit ihrem kühl-distanzierten Klassizismus sind die bedeutendsten Vertreter und der Inbegriff der damaligen „Avantgarde“.

1945

Nach 1945 zeigte sich starre Ausdruckslosigkeit und emotionale Abwendung in anderer Form. Die Vergangenheit wurde im Sinne eines Rückzugs „entwirklicht“. Sie versank „traumartig“, so heißt es im Buch des deutschen Arztes Alexander Harbold Mitscherlich „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ (1963).

In den Kompositionen dieser Zeit wurde alles in Frage gestellt. Tabula rasa machen mit dem Erbe der Geschichte, beim Nullpunkt wieder beginnen war die Intention von Komponisten wie Stockhausen und Boulez. Sie wollten die Musik von allen semantischen Bezügen säubern und stellten den gereinigten Einzelton und seine physikalischen Eigenschaften, wie Tonhöhe, Tondauer, Lautstärke und Klangfarbe in den Mittelpunkt ihrer Werke.

Die Einzeltöne fügten sich nicht mehr zu einer „Gestalt“, und der durch seinen abstrakten, errechneten Dauerwert bestimmte Ton ging keine Verbindung mehr zu seinem Nachbarn ein.

Die von den Komponisten vorgenommene, gezielte Einschränkung des Gestaltungsspielraumes und Zurücknahme des musikalischen Ausdrucks, kann als Entsprechung zu dem Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlustes bei Traumaopfern gesehen werden.

Die Trennung vom Körper wird in der seriellen Musik dadurch hörbar, dass es keinen Puls, kein Metrum und keinen spürbaren Takt mehr gibt. Was übrig bleibt ist „reines Material“ – eine Musik, die nichts mehr bedeuten und nichts mehr ausdrücken will.

1960

Um 1960 wurden Forderungen laut, wie diese: „Neue Musik muss verstörend wirken“ oder „Neue Musik muss weh tun“, was wiederum ein Attribut von Traumatisierung verdeutlicht.

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Nicht geheiltes Trauma wird in Selbst- und Fremdverletzung zwanghaft wiederholt und weitergegeben. Die selbst erlittene Gewalt im Alltag wurde nun musikalisch-künstlerisch inszeniert.

Wolf Vostells zum Beispiel komponierte in seinen musikalischen Happenings mit Vorliebe Autounfälle. In der zwanghaften Lust an Zerstörung gestaltete auch der Musiker Nam June Paik, der durch das systematische Demolieren von Musikinstrumenten, das Zerhacken von Klavieren und das Zersägen und Zerbrechen von Geigen berühmt wurde, die Musik. In solchen künstlerischen Aktionen wurde die traumatisch erfahrene Gewalt nachgespielt, aber auch als Fremdtraumatisierung an die Zuhörer weitergegeben. In diesem Kontext kann auch Stockhausens Äußerung interpretiert werden, wenn er zu den Ereignissen des Attentats vom 11. September sagt: „Also was da geschehen ist, ist natürlich das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat.“

Auch wenn solche Positionen heute noch vertreten werden, so haben sich doch immer mehr Komponisten von der rigiden musikalischen Haltung, verstörend und retraumatisierend zu komponieren, befreit und fanden musikalisch wieder Kontakt zu Gefühlen.

Psychotherapeutisch etabliert, unter anderem durch Eugen T. Gentlin, hatte sich die begründete Ansicht, dass alles was abgespalten und nicht gefühlt wird, bleibt, wie es ist. Erst wenn es gefühlt wird verändert es sich.

So suchte Bernd Alois Zimmermann in seiner Oper „Die Soldaten“ die Auseinandersetzung mit den Kriegserfahrungen. Seine Musik wirkt, als ob sie unter einem ungeheuren inneren Druck steht. Extremer Ausdruck mit großen Intervallsprüngen, scharfen Dissonanzen und harten Klängen sind allgegenwärtig, auch dort, wo es dramaturgisch gar nicht nötig wäre.

György Ligetis und Krzysztof Pendereckis Werke passten noch mit Clustern und gefrorenen Tönen in die Zeit, aber sie waren nicht mehr sinnleer seriell konstruiert. Die Fähigkeit des Erzählens kehrte in die Musik mit emotionaler Logik zurück. Kalte Fassaden brachen auf, fragmentarische Geschichtsfetzen fügten sich zu mehr Tonalität, die eine „romantische Sprachlichkeit“ einbezog. Rückbesinnung auf Gefühle und Lebendigkeit und das Erwachen aus der Starre des traumatischen Schocks klangen wieder an.

DDR

Ein Blick auf die kompositorische Entwicklung in der DDR kann das belegen.

Paul Dessau schafft in seiner „Einstein-Oper“ durch extrem harte Klänge und verzerrte Zitate emotionale Kälte. Der Ausdruck von Gefühlen wird weiterhin durch die Arbeit mit Stilzitaten auf Distanz gehalten. Die Ästhetik der Brüche wird auch in der „Trümmerlandschaft von Stilzitaten“ in Hans-Jürgen von Boses Oper „Schlachthof 5“, in der es um die Zerstörung Dresdens geht, deutlich.

In musikalischer und dramaturgischer Hinsicht blieb Kriegstrauma und dissoziiertes Verhalten jedoch bis heute musikalisch erhalten. Die wiedergewonnene Dimension des Erzählens in der Musik ermöglichte zwar, dass die Bedeutung des Traumas des Einzelnen und der Zuhörer emotional berührt und gehört wird, aber, dass die Traumen des 1. und 2. Weltkrieges geheilt sind, ist noch heute nicht der Fall.

Im Gegenteil: Alles was nicht gefühlt wurde und wird, heilt nicht und wird an die nächsten Generationen weiter gegeben und die individuellen traumatischen Schicksale der Einzelnen haben sich bis hin zur „Vergesellschaftung des Traumas“ aufgebläht. Ungefühltes Trauma blieb ungelöstes Trauma. Die alten Wunden platzen heute wieder auf.

Kann es nicht mal eine Generation ohne Trauma geben, frage ich laut in den Laden?
Der Verkäufer im Notenladen und ich unterdrücken die aufsteigenden Tränen.
Wir haben das Trauma auch abbekommen und sitzen mit im selben Boot.

Wir umarmen uns, der Verkäufer und ich, und bedanken uns beieinander, dass wir darüber offen sprechen konnten. Er ruft mir beim Gehen noch hinterher:


„Trauma ist, wenn man nicht mehr redet“