Musik - Liebesakt der Zweiheit

„Ich liebe die Musik aus vollem Bauche“, sagt der Japaner.
„Ich liebe die Musik aus vollem Herzen“, sagt der Europäer.

Der Bauch ist kreatives Zentrum der „Soundzeugung“, das Herz der Ort strukturgebender, dynamischer Lebensrhythmen. Das Wort „Sound“ hat Verwandtschaft mit dem deutschen Wort „sund“. Gesundheit ist demnach das „im Sound sein“.

Bist du im Sound?
Sind dein Herz und dein Bauch wirklich miteinander in Korrespondenz?
Schaffst du es, deine Gefühle von Verunsicherung, Angst und Stress, dein durcheinander gebrachtes Denken und Fühlen auf die Reihe zu bringen?

Ja? – meinen herz-lichen und bauch-lichen Glückwunsch!
Nein? – na, dann willkommen im Club!

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Immer und dauerhaft in Balance ist ja in Wirklichkeit niemand. Mal so, mal so, sagen die meisten auf die echt interessiert gemeinte Frage: „Wie geht es dir?“ Zwar strebt das Authentisch-sein nach Vollkommenheit, aber mal ehrlich: Mit der viel gepriesenen Ganzheit, Harmonie und dem Eins-Sein ist es doch eine schwierige Sache.
Das Zwei-Sein, oder Zweiheit könnte eine Alternative sein, zumal sie ebenso wie die Einheit ein kosmisches Gesetz ist. Ein Gesetz des Lebens.

Ohne Gegensatz, Dualität und Polarität wäre mein Leben nicht vorstellbar und nicht lebbar. Schon im eigenen Leib zerren mich konkurrierende Gedanken und Gefühle hin und her.
Außerhalb meiner geht es ebenso wild ab. Zweiheiten, vor allem Auseinanderstrebendes, waltet grausam in mir. Goethe meinte dazu: Harmonie entsteht, wenn eine Klammer die auseinander strebenden Kräfte zusammenhält. Das heißt also, es braucht etwas in der Welt, das das Widersprechende, die Konflikte, Krisen, Krankheiten und Katastrophen harmonisiert. Das hieße ja verbinden, statt bekriegen. Guter Gedanke, aber wie machen?

In mir und außer mir, über Generationen und vielleicht Inkarnationen hinweg herrscht doch eher Krieg. Die Illusion des „Gutmenschentums“ hat da oft mehr Schaden angerichtet als wahre Güte und Menschlichkeit verbreitet. Idealbild-Realbild-Korrelation nennt man das im Psychologen-Deutsch. Was ich von mir denke ist oft einseitig oder berechnend. Ängste um Zugehörigkeit, vor allem wenn sie zur Ideologie oder Religion erhoben wird, stehen da meiner Bauchlichkeit und Herzlichkeit sehr störend in der Quere.

Das Jahr 2022, mit den drei Zweien in der Jahreszahl hat mich zum Nachdenken bewegt. Nach zwei Jahren gefühlter Einzelhaft bekam ich mehr und mehr eine Ahnung, was die Kraft der Zweiheit bewirken kann.

Jede Medaille hat ja bekanntlich auch zwei Seiten, so auch die Medaille der Zweiheit. Die Frage ist, wie ich mit der Medaille als Ganzes umgehen lerne, denn es zeigen sich doch ehrlicher Weise immer wieder beide Seiten, nicht wahr?
Mal dreht sie auf die Seite der Überlastung und chronischen Anspannung, dann auf die Seite des morbide anmutenden Zwanges zur Entspannung und einem Dauer-Chill-Bedürfnis. Eine der beiden Seiten ausschließlich zu leben ist dem Wohlbefinden wenig zuträglich. Beide Seiten in ausgewogener, maßvoller Weise zu leben, das wär´s doch, oder?

Um die Dysbalancen auszugleichen braucht es aber die Kraft und Bereitschaft zur Wandlungsfähigkeit. Oder den sprichwörtlichen Tritt in den Allerwertesten, den man sich auch manchmal selbst geben muss.
Wenn es gelingt sich zu überwinden, dann kann aus dem Frosch ein echter Prinz werden.
Wie schade, wenn es nicht gelingt, vor allem für seine Braut! Doch zum Glück hat die ja im Märchen nachgeholfen, in dem sie ihn an die Wand geklatscht hat.
Muss wohl auch manchmal sein?

Mein Vater pflegte derb ausgedrückt zu sagen: „Erst wenn der Arsch auf Grundeis geht, ändert sich der Mensch!“ Und ich frage mich: „Was brauchen wir denn noch an Katastrophen, Krankheiten und Kriegen, um endlich unseren wohlstandsgesetzten Allerwertesten vom Sofa zu erheben?
Fakt ist: Wir sind nicht im Eins-Sein geblieben und dürfen in unserem Leben die Zweiheit lernen. Auch wenn wir in den letzten beiden Jahren offensichtlich Zweiheit eher als Zwietracht und Entzweiung erlebten.

„Wie wollen wir also Zweiheit leben?“
Auch da gibt es zwei Möglichkeiten und jeder Mensch hat die Wahl.

Zweiheit als Gegensatz

Im Gegensatz gilt ein striktes „entweder – oder“. Jeder bleibt auf seiner Seite, dazwischen gibt es eine klare Grenzziehung, bestenfalls eine Linie, schlimmstenfalls eine unüberwindlich hohe Mauer. Es geht um Schwarz oder Weiß, um einseitige Anpassung. Willst du auf deiner Seite bleiben oder Kampf gegen die andere Seite führen? Beide Seiten verteidigen Ihre Ein-Seitigkeit der Sicht. Wer hat Recht?

Zwischen beiden gibt es also die Linie, in welchen Farben auch immer, ob rote Trennlinie, schwarz, grau… Es gibt dieses Trennende, in Form von Gräben, Mauern, Verbotsschildern, Saal-, Laden- und Arbeitsverboten und was wir sonst noch so kennenlernen dürfen. Grausam waltende Kräfte stehen einander distanziert gegenüber. Ein verbindendes Drittes, die Klammer, die das Auseinanderstrebende zusammenhält, gibt es nicht. Goethe nannte dieses Dritte die Harmonie. Sie umarmt, umfasst allumfassend. Ohne Anwesenheit von Harmonie passiert das Gegenteil. Es wirkt beidseitige Abwehr, wie die Abstoßungskraft zweier gleich gepolter Magneten. Plus zu Plus und Minus zu Minus. Und so kamen sie niemals zusammen!

Zweiheit als Polarität

ICH, die ich bin, kann nicht genauso gepolt sein wie du, und umgekehrt auch nicht. Ich bin wie du einmalig und kein Abziehbild des genau Gleichen. Ich bin anders und du bist anders. Und wenn wir auf die selbst erschaffenen Grenzlinien pfeifen, können wir uns trauen näher zu kommen. Dann merken wir, dass etwas drittes Verbindendes auf natürliche Weise zusammen kommen will, so wie zwei gegensätzlich gepolte Magneten zusammen kommen müssen. Durch die Begegnung von Plus und Minus entsteht etwas Neues, etwas das einander bedingen, einander entsprechen und unwiderstehlich einander be-greifen lernen kann. Das ist etwas anderes als Anpassung, denn es gilt dabei das „sowohl-als-auch-Prinzip“. Alle Farbschattierungen zwischen Schwarz-Weiß-Malerei sind erlaubt und lebbar.

Indem jede Seite sich selbst als Individuum erfahren darf, den Selbstangriff aufgibt und sich selbst lieben lernt, wird das Ganze, die Ein-heit, das Eins-Sein erahnt und erspürt. Im ursprünglichen Eins-sein wird ein Teil jedes Einzelnen zu etwas Ganzen.

Saftig und lebendig wird dieses Ganze im Gemeinsamen. Es sprühen Funken der Freude, wenn Verbindung schaffende Tendenzen, also die Bereitschaft zur echten Begegnung in und aus jedem Einzelnen wirken. Wenn sich aus ganzem Herzen und aus ganzem Bauche, in einem individuell variablen Gleichmaß meines und deines Herzens und Bauches ein ebenbürtiger Austausch entwickelt. Das ist wie Ostern, Weihnachten und Geburtstag gleichzeitig.

Wenn der Bauch sich auf die Regelmäßigkeit des Herzens bezieht und ebenso das gleichmäßige Pulsieren des Herzens den Gefühlen des Bauches strukturierend dient, werden überflutende Gefühle vom Gleichmaß, sanft aber bestimmt, ausgleichend harmonisiert.

Im Gegensatz dazu wird durch die Gefühle des Bauches dem übermäßigen Gleichmaß, mit dem Hang zu Totalität und Reglementierung und Zwang, das entgrenzende Fühlen entgegengesetzt.

Wenn Zweiheit in „sich-gegenseitig-bedingen“ gelebt würde, wäre sie unwiderstehlich und beglückend. In echter Harmonie lebt die „gute“ Zweiheit. Ich rede nicht von „gut gemeinter“ Scheinharmonie. Die funktioniert nicht, und fühlt sich widersprüchlich und unstimmig an. Ebenso ist es mit der Stille. Die zufriedene Stille gibt Seelenruhe. Die angespannte Stille beunruhigt in tonlosem Schrei durch unterdrücktes Unausgesprochenes.

Dreiheit als Lösung

Die Klammer der Harmonie, von der Goethe spricht, finde ich in der Musik. Und ich lade Sie als Musikerin und Musiktherapeutin dazu ein, die heilende, kommunikativ-klärende Kraft der Musik in meiner therapeutischen Arbeit zu erleben.
Die Musik ist das verbindende Dritte. Sie ist die, die alle Sprachen, Kulturen und Wesen zusammen bringt, und auf wundersame Weise wie eine Weltsprache verstanden wird. Die Musik ist die große Weltentherapeutin! Ich bin da gern ihre kleine menschliche Co-Therapeutin. In gemeinsamer Zwei-heit mit ihr will ich das Wunder der Verwandlung von trennendem Gegensatz zu bezogener Polarität vollbringen helfen.

Die Musik selbst ist der Liebesakt dieser Zweiheit. Sie, auf den Punkt gebracht, hat Zeugungsenergie, die mich aus dem Eins-Sein hervorbringt, die Geburt in die Zwei-heit ermöglicht und die Dreiheit im diesseitigen Leben erfahrbar werden lässt.

„Im Tale grünet Hoffnungsglück…“ so sehnt sich Goethe, so wie auch ich heute. Das ist es doch, was wir gerade alle so sehr wünschen, Hoffnung!

In guter Hoffnung sein kommt da manchmal sogar dabei heraus. Es ist schließlich Frühling.

Weimar, Pfingsten, 6.6.2022