Dornröschen schläft nicht zweimal – Familienaufstellung mit Instrumenten

„Jedes Geschöpf ist mit einem anderen verbunden,
und jedes Wesen wird durch ein anderes gehalten“

So wie Hildegard von Bingen es in der kleinen Spruchweisheit sagt, so gehen auch C.G. Jung und Quantenphysiker wie David Bohm davon aus, daß wir nicht nur abgetrennte Individuen mit einem persönlichen Unbewußten, sondern in tiefen Schichten kollektiv verbunden sind, mit unseren Ahnen, ungeborenen Kindern, mit aktuellen Mitmenschen.

Meine erste Begegnung mit dieser mir noch unbewußten Verbundenheit und kollektiver Weitergabe hatte ich während meines Studiums vor 25 Jahren. Da erschien grad frisch das Buch „Klingende Systeme – Aufstellungsarbeit in der Musiktherapie“, und dessen Verfasser Tonius Timmermann war als Gastdozent eingeladen.

Musikresonanztage-2024

Zu der Zeit wurde mir meine bisherige unerklärliche Belastung und Beklemmung bewußt, innere Spannungszustände, muskuläre Verrenkungen, die mich in eine starke Rückgratskoliose zerrten. Ein tiefes Gefühl von „eingesperrt sein“, ich nannte es bagatellisierend meine DDR-Knastneurose. Sie lief wie der Untertitel in meinem Lebensfilm mit. Bei Besichtigungen von Stasigedenkstätten wurde ich wiederholt gefragt, ob ich damals politisch inhaftiert gewesen sei, weil ich dermaßen stark emotional darauf reagierte. Hinzu kam eine unendlich große Trauer, die ich empfand, wenn ich erlebte, wie mein Vater „klein gemacht wurde“.

Wie es dann zu meiner ersten Familienaufstellung kam, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall kursierte damals unter Psychologiefachleuten das Gerücht einer „besonderen Therapie“ und ich weiß noch wie heute, daß ich danach dachte: „Scheiße, wenn das wahr ist, dann ist das, was ich bisher gelernt habe, komplett das Gegenteil.“ Was ich bisher geglaubt, gelehrt bekommen und dadurch gedacht und zu wissen glaubte, stellte sich geradezu umgekehrt dar. Völlig aufgelöst und erleichtert heulte ich daraufhin bei allen Aufstellungen meiner Kommilitonen und der Meinigen wie ein Schloßhund. Alles kam hoch, sprudelte lebendig hervor, kam allmählich und endlich in Bewegung, so wie ein Mobile. Ich war angestoßen worden und alle die mit mir verbunden waren, kamen durch meinen Impuls mit in Bewegung.

Das Bewegen mit Instrumenten und dabei darauf herumspielen intensivierte und vertiefte die Umkrempelungsaktion. Meine Wahrnehmungen wurden dabei erweitert, Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Nicht-Sprachlichen Bereich verstärkt. Und mir ging, wie mein Vater sagen würde: „Der Arsch auf Grundeis“.

Wie ging es los mit der musiktherapeutischen Systemarbeit?

Musiktherapeutisch wagte sich im Jahr 2000 Stella Mayr, eine frühere Wiener Musiktherapeutin und Lehrbeauftragte für tiefenpsychologische Gruppendynamik, an das Thema heran. Aufstellungen waren damals noch längst nicht in Mode, als sie bereits mit Instrumenten Familien aufstellen ließ. In Einzeltherapie wurde es zwar schon länger praktiziert, Instrumente frei zu wählen und als Symbole für Familienmitglieder, einschließlich tot geborener, abgetriebener und verstorbener Kinder, Großeltern und noch früherer Ahnen aufzustellen. Auch nichtpersonale Repräsentanzen, wie Gefühle, Schatten, Leben, Tod, Schicksal, Länder, die Soldaten, die Opfer, die Täter, Krankheiten, Behinderungen, Symptome, Organe, Geld, Objekte, Ereignisse, Konflikte, Traumbilder und vieles andere mehr wurden aufgestellt.

Ein nächster Schritt war jedoch der Blick auf das, was zwischen den Repräsentanten wirkt sowie das Beziehungsgeflecht aller Mitglieder eines Systems mit Instrumenten im Raum zu positionieren.

Mein geschätzter Lehrer Tonius Timmermann war damals, wie wir alle in dieser Zeit, stark impulsiert durch Aufstellungen bei Bert Hellinger. Ich selbst erlebte eine solche Aufstellung im Saal des Mainzer Kurfürstlichen Schlosses auf der Bühne.

Das war damals für mich ein gefühlter Quantensprung.

Die neurologisch fundierte Bindungs- und Traumaforschung fand heraus, daß die Erfahrungen und Potentiale der Bezugspersonen non-l bzw. präverbal, das heißt atmosphärisch, über körperliche und stimmklangliche (prosodische) Beziehungsinhalte weitervermittelt werden. Die transgenerationale Weitergabe positiver wie negativer Erfahrungen geschieht also auf einer Ebene, für die nonverbale Therapieverfahren wie Musiktherapie geradezu prädestiniert sind.

„Der Musik wird der kulturelle Ausdruck kollektiv geteilter mentaler Repräsentationen, Emotionen, Affekte und Atmosphären zugesprochen. Sie ist Träger kollektiver und universeller Gefühlsqualitäten und Botschaften, die von Generation zu Generation in den Archiven des Leibes weitergegeben werden.“

Isabelle Frohne-Hagemann 2008, aus „Schuld und Schuldfähigkeit, ein Thema für die Geführte Imagination mit Musik (GIM)“.

Was wirkt bei den Aufstellungen mit Musik?

Im Gegensatz zur klassischen humanistischen Psychotherapie geht die Systemtherapie nicht von der Freiheit des Menschen, sein Schicksal gestalten zu können, aus. Unbewußte Bindungen, Loyalitäten, Verstrickungen geben dem wahren Selbst einen Spielraum, welcher sein Schicksal einengt. Durch Bewußtwerdung und Anerkennung dessen kann der Mensch sich lösen, neu zuordnen und strukturieren, wodurch der Weg frei wird für das wirklich Eigene, das wahre Selbst im optimalen Spielraum des Schicksals.

Bereits Kepler schrieb in seinen fünf Büchern von der Weltharmonik, daß Musik als Archetyp strukturierend und ordnend wirkt, lange bevor Jung diesen Begriff in die Tiefenpsychologie einbrachte.

Der antike Pythagoras entdeckte im Klang offenbarende, strukturierende, schwingende ganzzahlige Verhältnisse, die in der Musik sinnlich wahrnehmbar zum Ausdruck kommen, besonders deutlich im reinen Monochord Klang. Sein Klang hat eine primäre, ihm immanente Ordnung. Sichtbar wird diese durch Bilder, die auf einer schwingenden Metallscheibe entstehen, wenn ein Geigenbogen den darauf fein verrieselten Sand in Vibration versetzt. Im Schloß Freudenberg, dem Erfahrungsfeld der Sinne in Wiesbaden, kann man diese 1787 gemachte Entdeckung von Ernst Flores Friedrich Chladni, einem deutschen Physiker und Astronomen aus Wittenberg-Lutherstadt, erleben. Seit 1984 beschäftigt sich Alexander Lauterwasser, ein am Bodensee lebender Fotograf, unter anderem mit der Verbildlichung von Gongklängen.

Hans Jenny, ein schweizer Arzt, Lehrer, Maler, goetheanistischer Naturforscher und Begründer der Kymatik, schreibt in den 60-igern in seinen Büchern über primär-klangstrukturelle Ordnungen und resümiert:

„Je mehr man sich mit diesen Dingen befaßt, desto mehr stellt man fest, daß Klang das schöpferische Grundgesetz ist, es muß als Urgesetz betrachtet werden.“

Quantenphysiker anerkennen dies und nennen die darin implizierte Ordnung „Informationsfeld“. Damit wird das formende (in-form-ierende) Prinzip hervorgehoben.

Woher kommen die therapeutisch wirksamen Informationen?

Erforscht sind sie unter dem Begriff Epigenetik. Diese geht davon aus, daß nicht nur organische Parameter vererbt, sondern auch Informationen übergenerational weitergegeben werden. In dem schon erläuterten „Informationsfeld“ sind alle Informationen der Familie, der Ahnen, der Sippe und aller, die zum Feld gehören, enthalten. In der Aufstellung wirkt dieses unbewußte Gedächtnis des Familiensystems und wird vom Stellvertreter intuitiv abgerufen, so als ob diese Informationen ge-downloadete Erfahrungen, Gefühle, Traumata, Schicksalsinszenierungen von Generation zu Generation sind, die immer und immer wieder heruntergeladen werden, und leider nicht nur das Förderliche und Gute der Altvorderen, sondern auch das Unverarbeitete und Ungelöste wirkt in der nächsten Generation weiter. So konnte mittlerweile ausgeschlossen werden, daß traumatische Erlebnisse nicht nur durch verändertes Verhalten in der Familie, sondern auch durch geistige Vererbung weitergegeben werden. Traumatische äußere Ereignisse wirken sich z. B. auf Zelleigenschaften und den Aktivitätszustand von Genen auf zellulären Ebenen aus.

Die epigenetische Forschung hat auch nachgewiesen, daß die kindliche Entwicklung bereits ab der intrauterinen Phase vom psychischen Zustand der Mutter, die ja aus ihrem eigenen System heraus gleichfalls transgenerational vorgebunden ist, beeinflusst wird. SALVADOR hat 2018 nachgewiesen, daß neugeborene Kinder von depressiven Müttern ein übereinstimmendes physiologisches Profil nachweisen. Entsprechend kann man dies von ungelösten Familiengeschichten annehmen.

Bei transgenerationalen Übertragungen werden Nachkommen im Familiensystem zum, Zitat Werner Bohleber, praktizierender Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt am Main, „Container für unverarbeitetes Leid und traumatisiert, durch abgewiesene Schuld und Verantwortung“. Dies gilt sowohl für die Opfer als auch für die Täter. Es gilt für kollektive Traumatisierung durch Kriege, wie z. B. die beiden Weltkriege in Europa. Und obwohl diese fast 80 Jahre schon vorüber sind, irren immer noch verwirrten Seelenanteile derer die sie erlebten und bei deren Nachkommen.

Die gesprochene oder musikalisch ausgedrückte Intention des Satzes: „Der Krieg ist vorbei“ kann in einer nicht enden wollenden Therapietragödie einem erlösenden Aufwacherlebnis gleichkommen.

In der musiktherapeutischen Systemarbeit nach Tonius Timmermann (2008) geht es speziell darum, statt Stellvertreterpersonen Instrumente aufzustellen (Einzeltherapie), oder den stellvertretenden Personen (Gruppen) Instrumente beizustellen.

Intuitiv wird bei einer Aufstellung den Bewegungen des Seelischen, des Unbewußten im sog. transpersonalen und transgenerationalen Informationsfeld nachgegangen.

Während einer solchen musiktherapeutischen Aufstellung 2008 in Dresden, meiner Geburtsstadt, hörte ich im Spiel des Monochords die Bomber, die in der Nacht vom 13. Februar 1945 die Kunst- und Kulturstadt zerstörten. Ich war überrascht, und wie ferngesteuert konnte ich nicht mit dem Spiel darauf aufhören, dabei weinte ich unaufhörlich. Taschentücher reichten nicht. Der Rotz lief und lief in einen bereitgestellten Eimer, bis unser Therapeut Tonius Timmermann nur diesen einen Satz sagte: „Der Krieg ist vorbei!“

Das fühlte sich an, als wäre ich schlagartig aus einem mir fremdinjizierten Dornröschenschlaf erwacht, als hätte in meine elende Endlosheulorgie der Blitz eingeschlagen.

Bewußtheit hatte den bösen Zauber für immer gebannt. Zwölf Jahre später, als der Menschheit das Atmen erschwert und wenig später verführerisch angeboten wurde, sich erneut von einer Spindel stechen zu lassen, blitzte die Erinnerung an das Monochord in Dresden sofort in mir zum zweiten Mal auf, und zum Glück nicht erst Generationen später.

Dornröschen schläft nicht zweimal! Und auch der innere Hofstaat bleibt das zweite Mal wach.

Jetzt sind seit 2020 schon fast fünf Jahre vergangen und ich stehe gestärkt als Musiktherapeutin zur Verfügung, um das neue Leid, die neue Schuld, das neue Verantwortung-herum-schieben, die neuen Traumen zu behandeln. Kleine Kinder, ebenso wie große Kinder, genannt Erwachsene, haben sich transgenerational wieder involviert. Dabei hängen ihre eigenen verletzten Anteile oft noch in alten Generationskonflikten. Selten stehen sie so stabil wie Personen ihres aktuellen Lebensalters da, um für ihre Kinder die liebende Autorität, der Halt und Schutz zu sein. Die extremen Konfliktsituationen der letzten Jahre überhaupt zu überstehen, gelingt dank der Anpassungsfähigkeit der Psyche, die mit Kompensationen und Abwehrmechanismen für das Überleben sorgt. Karl König hat mehr als 100 Abwehrstrategien 1995 im gleichnamigen Buch systematisiert. Es geht um Abwehrverhalten wie z. B. Vergessen, Verdrängen, Bagatellisieren, Verleugnen, Verneinen, Projizieren auf andere, Intellektualisieren und Verschieben ins Unbewußte.

Aber das Unbewußte vergißt nie!

Nicht mal über den Tod hinaus und über Generationen hinweg. Die aktive Bewußtwerdung durch Erkenntnisse und die Bereitschaft, an sich zu arbeiten und „es-wahrhaben-wollen“ unter Einbezug des historischen Denkens über Generationen hinaus, kann die Konflikte bändigen und bestenfalls lösen.

Im vergangenen Jahr, also 25 Jahre später, wurde Tonius Timmermanns „Klingende Systemarbeit“ endlich als Methode im Münchner Freien Zentrum für Musik zur berufsverbandlich anerkannten Zusatzausbildung für Musiktherapeuten und ich freute mich, Tonius als mittlerweile pensionierten Musiktherapeuten aus Leidenschaft, dort wieder zu erleben und mir die Methode zu zertifizieren.

Kollegen fragten mich: „Warum kannst denn du das schon so gut?

Meine sächsische Antwort dazu: Weil mein Arsch zwei Mal auf Grundeis war. Erstmals, als der Bruder meines Vaters zwischen Stacheldraht und Strandkorb über die Ostsee an der Lübecker Bucht vor Boltenhagen mit der Luftmatratze über die innerdeutsche Grenze flüchtete und dabei erschossen wurde. Der unbetrauerte Tod eines erklärten „Staatsfeindes“, zu dessen Beerdigung der eigenen Mutter verboten wurde zu erscheinen Das war der erste transgenerationale, seelisch und körperlich deformierende Tauchgang meines Hinterteils bis zum eisigen Grund. Der zweite dann im Jahr 2020, also mehr als drei Jahrzehnte nach meiner gelungenen Ausreise aus der DDR. In den Jahren dazwischen gab es genügend Anlässe für mich und für andere, musiktherapeutisch Systeme aufzustellen, um so wieder Auftrieb und einen trockenen Hintern zu bekommen. Das ging jedoch langsam und war mühsam, denn damals war die „neue“ Therapiemethode noch nicht erforscht und basierte auf Phänomenologie. Anwendern wurde deshalb Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen. Aber das kennt man ja heute auch noch. Wer seiner Zeit voraus ist, etwas kann oder weiß, wird als Esoteriker oder Schwurbler verunglimpft. Oder wie heißt es: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, hatte Michael Gorbatschow 1989 zu Erich Honecker gesagt. Ich sage: „Wer zu früh kommt, den bestraft auch das Leben. Und die Kunst ist es, dies nicht als Strafe zu empfinden. Auch wenn man selbst nichts mehr davon hat, und erst 20, 30 Jahre wie die Systemtherapie oder, wie Johann Sebastian Bach erst 100 Jahre später, in aller Genialität anerkannt wird.

Ich vertraute vor 25 Jahren und vertraue heute noch einfach auf die Musik und ihre Heilfaktoren und lasse mich nicht davon abbringen, sie als allumfassende „Weltsprache“ zu würdigen. Ich bleibe ihr als Co-Therapeutin treu zu Diensten.

Ohne Musik wäre mein Leben zwar möglich, aber sinnlos.

Der Sinn meines Lebens wird jedoch auch von Generationsschleiern verdunkelt und verdeckt. Die Musik ent-deckt ihn.