Das Werk einer Musikvisionärin fortsetzen
Das Hingezogensein des Menschen zu Musik, sein Gefühl für Musik zeigt, dass Musik in der Tiefe unseres Seins lebt. Musik ist hinter dem Wirken des ganzen Universums. Musik ist nicht nur des Lebens höchstes Ziel, sie ist das Leben selbst.
Hingezogen fühlte ich mich schon seit mehr als 30 Jahren in die Landschaft zwischen den Flüssen Rhein, Mosel und Nahe. Etwas Unbeschreibliches zog mich buchstäblich dahin. Irgendwann erfuhr ich, dass Hildegard von Bingen in dieser Gegend Ende des 11. Jhd. geboren sei, ab frühester Kindheit im Kloster Disibodenberg lebte und lange Jahre darum kämpfte aus diesem damaligen Männerkloster, mit winzig kleiner Frauenklause auszuziehen. Über 50-jährig schaffte sie es endlich und gründete ihre Klöster in Bingen/Ruppertsberg und Eibingen/Rüdesheim, wo sie als Äbtissin bis zu ihrem Lebensende wirkte.
Ich wusste, dass Hildegard von Bingen Heilpflanzenkennerin war, medizinisch bewandert und eine berühmte Art sich zu ernähren entwickelt hatte. Über ihre imaginative und musikalische Begabung aber wusste ich nichts.
Lange war mir gar nicht bewusst, dass es eine tiefe Affinität zur Musik Hildegard von Bingens ist, die mich in ihre Nähe zu ziehen schien. Ich spürte, dass ich etwas damit zu tun hab. Als Musikerin und Musiktherapeutin war diese Vermutung ja auch gar nicht so abwägig.
Sollte ich etwa ihre Visionen der Musik fortsetzen?
Ich, damals selber Anfang 50, und mir immer noch nicht bewusst über die Bedeutung der heilenden Vocal-Musik von Hildegard von Bingen, wählte intuitiv meinen Praxisstandort und Auftrittsort für klassischen Gesang, Jazz, Chanson in dem Dörfchen Staudernheim, am Fuße des Disibodenbergs und der heutigen Klosterruine.
Vielen Menschen ist ja auch heute noch nicht so klar, wie sehr Musik gesund hält und welchen positiven Einfluss sie zur Heilung von Krankheiten hat. Bewusst wurde es mir selbst erst so richtig als ich 2020 den Schock und Schmerz spürte, als unsere Politik entschied das Singen zu verbieten. Ich empfand etwas ganz Schlimmes auf uns zukommen, denn bisher wurde in den unerträglichsten Situationen der Menschheitsgeschichte dennoch immer gesungen. Bei harter Sklavenarbeit, im Schützengraben, im KZ, in der Sterbebegleitung. Der einseitige Schutz vor Viren hat Wirren, Entmündigung, Einsamkeit, emotionale Verwahrlosung und Leiden auf allen Ebenen ausgelöst.
Ich dachte bis dahin, dass es so ein Sing-Verbot noch nie vorher gab. Aber weitgefehlt! Als ich im vergangenen Jahr den Hildegard von Bingen Pilgerweg wanderte erfuhr ich, dass Hildegard die Ausübung von Gesang und die Anwendung der Musik als Therapeutikum für Seele und Geist auch schon mal verboten wurde.
Zu dieser Zeit war sie schon eine hochbetagte Frau, und die letzten Monate ihres Lebens wohl die schmerzlichsten. Denn seitens des Mainzer Bischofs und seiner Domgeistlichen wurde ein Interdikt über die klösterliche Frauengemeinschaft der mitttlerweile 80-jährigen Äbtissin verhängt. Das bedeutete für sie und die Schwestern nicht nur Verzicht auf den Empfang der Kommunion, sondern auch das Singen in der Klosterkirche war bei Strafe untersagt.
Der damlige angebliche Grund dieses Verbotes war die widerrechtliche Beerdigung eines exkommunizierten Edelmannes auf dem Ruppertsberger Kirchhof. Die Kanoniker des Mainzer Domes verlangten, dass seine Gebeine exhumiert werden, also vom Friedhof entfernt. Hildegard aber lehnte das ab und segnete stattdessen das Grab feierlich mit dem Äbtissinnen-Stab. Vor Gott sind alle Menschen gleich, und deshalb dürfen auch alle auf dem Friedhof begraben werden.
Sie war also im Widerstand würde man heute sagen. Vor allem widerstand sie der damals um sich greifenden Bequemlichkeit, der Korruption und Vetternwirtschaft, der Unaufrichtigkeit und Lüge geistlicher und weltlicher Würdenträger!
Über die tatsächlichen Gründe des Singverbotes wurde seither viel geforscht, aber es lässt sich heute nur spekulieren welche politischen und religiösen Konflikte letztendlich das Zünglein an der Waage waren. Berühmt war Hildegard auf jeden Fall schon während ihrer Lebeszeit für ihr energisches Auftreten für Wahrheit und ehrliche Gottesliebe. Sie kritisierte resolut Fürsten, Ordensträger und Politiker in ihren Ansprachen und Briefen. Hildegards Entschlossenheit, gepaart mit ihrem genialen Universalwissen und übernatürlicher seherisch-imaginativer Begabung imponierte so stark, dass sie während ihres ganzen Lebens keine ernsthaften negativen Konsequenzen zu erwarten hatte, im Gegenteil, sie impulsierte Begeisterung und Leidenschaft für das Göttliche, was nach 1000 Jahren Christentum in der Institution Kirche verloren gegangen schien. Noch im hohen Lebensalter debattierte sie gegenüber lau gewordenen starren Kirchenvätern, resignierte nicht und gab nie „um des lieben Friedens willen“ kleinbei.
Während der Zeit des Verbotes das vorhandene geistliche Liedgut singen zu dürfen, begann Hildegard verstärkt selbst zu komponieren. Von keinem namentlich bekannten Komponisten des Hochmittelalters ist ein musikalisches Werk in vergleichbarem Umfang wie von Hildegard von Bingen überliefert. Die Prophetin verfasste 77 Gesänge und ein geistliches Singspiel. Durch ihre intensive Auseinandersetzung und Selbsterfahrung mit Musik erahnte sie die überdimensionale Bedeutung der Musik für die spirituelle Entwicklung des Menschen.
n einem erhalten gebliebenen Brief an die Mainzer Prälaten, die 1178 das Interdikt über den Ruppertsberg verhängt und so den Chorgesang im Kloster verboten hatten, formulierte und argumentierte Hildegard eine Art der „Musik-Theologie“, die besagte:
Vor dem Sündenfall sei es dem Menschen möglich gewesen, am Gotteslob der Engel teilzunehmen. Danach erhielten die Propheten wieder etwas von dem, damals verlorenen Wissen der Engel zurück. Durch die Gesänge und den Klang der Instrumente sollten die Menschen belehrt und zu einem gottgefälligen Leben ermuntert werden. Seitdem habe aber der Teufel alles daran gesetzt , das gesungene Gotteslob zu verhindern.
Damit hatte das im 13. Jahrhundert begonnene Kanonisierungsverfahren, durch die Heiligsprechung des Papstes 2012 einen formalen Abschluss gefunden. Und zu einem festlichen Gottesdienst anlässlich dessen war ich damals, zu Pfingsten 2012 auf dem Klostergelände Disibodenberg mit anwesend. Und ich weiß noch, welchen platten Ausruf ich als Resümee dieses ehrwürdigen Tages herausposaunte:
Was wahr ist, ist wahr, auch wenn man dafür erst 800 Jahre später heilig gesprochen wird.
Auch wenn ich niemals heilig gesprochen werde, fühle ich mich zur Fortsetzung des imaginativ-spirituellen Werkes dieser Musikvisionärin verpflichtet. Warum sonst wurde ich in ihre Nähe geführt?
Das die Musik das Wichtigste ist, und sie darum bittet, dass ihr musikalisches Werk jemand anderes weiterführt, soll sie auf ihrem Sterbebett gesagt haben. Diese Bitte resonierte, ja brüllte in mir. „Tu es!“
Ist das meine Lebensbestimmung?
Daher leiste dem Teufelswerk Vorschub, wer leichtfertig den Gesang unterbinde.
Sie, die Prophetin Hildegard schrieb in diesem Brief nach Mainz auch, dass ihre komponierte Musik nicht eigenem Ursprungs, sondern – wie ihr gesamtes Werk – göttlichen Ursprungs sei.
Vermutlich hat Hildegard diese Gott-empfangene Musik nie notenschriftlich festgehalten, sondern durch eigenes Singen ihrem Konvent mitgeteilt. Im Rahmen des klösterlichen Chorgesanges wurden die Lieder dann wohl zunächst in den liturgischen Gebrauch eingeführt. Wahrscheinlich erst mit der Überarbeitung ihres gesamten Werkes ist Hildegards Musik auch niedergeschrieben worden. Als gleichberechtigtes Medium der göttlichen Offenbarung neben den prophetischen Schriften sind ihre Kompositionen in dem berühmten Buch „Riesenkodex“ in Prachthandschrift des 12. Jahrhunderts bis heute erhalten geblieben.
Wer singt betet doppelt!
Nicht nur einmal schrieb sie nach Mainz. Sie entwarf ein Protestschreiben nach dem andern und legte darin dar, dass Klänge nicht nur eine irdische Dimension haben, sondern dass die Musik in einem harmonischen Verhältnis mit dem ganzen Kosmos steht und Menschen in Liedern gleichsam mit den himmlischen Chören der Engel harmonieren können.
„Bedenkt also: Wie der Leib Christi vom Heiligen Geist aus der unversehrten Jungfrau Maria gezeugt wurde, so wurde auch der Gesang des „Gottes-Lob“ durch den Heiligen Geist als Widerhall der himmlischen Harmonie in der Kirche verwurzelt. Der Leib jedoch ist das Gewand der Seele, die eine laute Stimme besitzt, und deshalb kommt es dem Leib zu, Gott durch die Stimme mit der Seele zusammen zu lobsingen. Daher gebietet auch der prophetische Geist bezeichnenderweise, Gott mit schallenden und jubilierenden Zimbeln und den übrigen Musikinstrumenten, die Weise und Gelehrte erfunden haben, zu loben.“
Hildegard kämpfte und appelierte mit unwiderstehlicher, übersinnlicher Erkenntnisskraft und selbstdispipliniertem Willen, aber sie stand nicht nur alleine da. Es gab auch in ihrer Zeit mutige, aufrichtige, wohlgesonnene Unterstützer. So setzte sich Erzbischof Philipp von Köln für die unermüdlich agumentierende fast 82-jährige Äbtissin ein, um schlussendlich das Verbot zu Singen im März 1179 zur Aufhebung zu zwingen.
Ein halbes Jahr nach dem glücklichen Ausgang dieses Konflikts starb Hildegard am 17. September 1179.
Sofort nach ihrem Tod begann die Verehrung Hildgards als Heilige, und Papst Gregor IX eröffnete 1233 den Prozess der Heiligsprechung (Kanonisierung). Dazu wurde das Urteil von Wilhelm von Auxérre von der theologischen Fakultät Paris eingeholt der erklärte:
„Hildegards Schriften enthalten keine menschlichen, sondern göttliche Worte.“
Warum auch immer der Prozess ihrer Heiligsprechung in den folgenden Jahrhunderten nicht zu Ende geführt worden ist, ob die Inquisitoren schlampige Arbeit geleistet hatten, ob sie als Frau unter den Tisch fallengelassen wurde, ob sich Kirchenvertreter durch ihre penetrante, widerborstige Art auf den Schlips getreten gefühlten kann man nur mutmaßen.
Hildegard jedoch wurde über die Jahrhunderte hinweg lokal in den Diözesen des Rheinlandes als Heilige verehrt und stand seit langem im offiziellen Martyrologium der Kahtolischen Kirche.
Es hat fast 800 Jahre gedauert, bis sie am Pfingstmontag, dem 10. Mai 2012 durch Papst Benedikt XVI. endlich offiziell für die gesamte Weltkirche heiliggesprochen wurde.
Die späte Kanonisierung war die Voraussetzung dafür, dass Hildegard von Bingen dann am 7. Oktober gleichen Jahres, ebenfalls auf persönliches Betreiben des deutschen Papstes hin, als vierte Frau nach Teresa von Àvila, Katharina von Siena und Thérésa von Lisieux zur Doctor Ecclesiae Universalis, zur Kirchenlehrerin der Weltkirche erhoben worden ist. Hildegard zählt seither zu den insgesamt 34 theologischen Autoritäten seit der Spätantike, deren Lehren derart gewürdigt werden. Sie ist, neben 30 Kirchenvätern eine der vier Frauen und einzige Repräsentantin Mitteleuropas.
Damit hatte das im 13. Jahrhundert begonnene Kanonisierungsverfahren, durch die Heiligsprechung des Papstes 2012 einen formalen Abschluss gefunden. Und zu einem festlichen Gottesdienst anlässlich dessen war ich damals, zu Pfingsten 2012 auf dem Klostergelände Disibodenberg mit anwesend. Und ich weiß noch, welchen platten Ausruf ich als Resümee dieses ehrwürdigen Tages herausposaunte:
Was wahr ist, ist wahr, auch wenn man dafür erst 800 Jahre später heilig gesprochen wird.
Auch wenn ich niemals heilig gesprochen werde, fühle ich mich zur Fortsetzung des imaginativ-spirituellen Werkes dieser Musikvisionärin verpflichtet. Warum sonst wurde ich in ihre Nähe geführt?
Das die Musik das Wichtigste ist, und sie darum bittet, dass ihr musikalisches Werk jemand anderes weiterführt, soll sie auf ihrem Sterbebett gesagt haben. Diese Bitte resonierte, ja brüllte in mir. „Tu es!“
Ist das meine Lebensbestimmung?